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Festival

Leitmotive:
Teilhabe, Kollaboration und offene Quellen...

Die Windungen einer Schlange sind noch viel komplizierter als die Gänge eines Maulwurfbaus. (Gilles Deleuze)
steirischer herbst

» Fr 13/10 & Sa 14/10 – Wörterbuch des Krieges

» 21/09 - 15/10/2006 – steirischer herbst 2006



Christian Höller
Sicherer Kontrollverlust
Kontrolle, Kollaboration, Teilhabe – das gesellschaftliche Imaginäre speist sich aus einer Vielfalt von Motiven und Szenarien, die in mehreren Ausstellungen des diesjährigen steirischen herbst aufgegriffen werden.
Christian Höller über Testfelder der Neuformatierung und produktive Komplizenschaften von und mit Bildern.

Versucht man, das Imaginäre heutiger westlicher Gesellschaften großflächig zu umreißen, so stößt man bald auf auseinander laufende Vektoren. Auch die Ausstellungen im Rahmen des diesjährigen herbst greifen dieses Imaginäre an unterschiedlichen, teils entgegen gesetzten Angelpunkten auf: beim Motiv des sich verabsolutierenden Sicherheitsdenkens hier, beim realen Tatbestand einer sich weltweit ausbreitenden Verelendung da; beim (Stadt-)Bild flexibilisierter Arbeitsräume ebenso wie bei utopischen, erst zu realisierenden neuen Kollaborationszonen. Dass dieses Mosaik aus divergenten Thematiken und Zugängen dennoch einen gemeinsamen Imaginationsraum erschließt, einen das Soziale im größeren Zusammenhang abbildenden Vorstellungshorizont, dies lässt sich alleine schon an dem engmaschigen Titel- Patchwork ablesen: von „trauriger Sicherheit“ (Grazer Kunstverein) ist die Rede, von „Slums“ (Neue Galerie) und möglichen „Protections“ (Gutshaus Kranz), aber auch von „Intermediate Spaces“ (ESC) und „Further Processing“ (Medienturm), also jenen Vorkehrungen, mit denen sich vorschnelle Gewissheiten wieder relativieren oder öffnen lassen.

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Dabei ist das Imaginäre als jene Instanz, die dem Sozialen einen Handlungshintergrund bzw. Rest an Zusammenhalt verleiht, nicht einfach aus Extrembildern ableitbar: sei es aus der Schreckensvision einer universellen Überwachungsmaschinerie zum einen, der Schönfärberei einer emanzipierten und durchgehend liberalisierten Gemeinschaftlichkeit zum anderen. Vielmehr rührt das soziale Imaginäre selbst aus einer Vielfalt von Szenerien, die sich miteinander im Wettstreit, in inkohärentem Nebeneinander oder auseinander strebender Divergenz befinden. Kontrollmechanismen mögen einen dieser Vektoren, Kollaborationsmodelle einen anderen bilden, der Disziplinierungsaspekt, den Gemeinschaftsfantasien unweigerlich mit sich führen, vielleicht einen dritten. In der Themen- und Motivpalette der genannten Ausstellungen spiegelt sich nicht zuletzt diese Divergenz selbst wider: als Versuchsszenario im Hinblick auf „Stabilität und soziale Ordnung“ hier, als Frage nach der „Komplizenschaft mit Bildern“ (Camera Austria) da; als Untersuchung von „Arbeit in der postfordistischen Stadt“ (HDA) ebenso wie als grundsätzlicher Befund, dass „kein Raum jemals unschuldig sein kann“ (Forum Stadtpark). Was diese Motivpalette samt ihrer vielfältigen Methodiken weder leisten kann noch will, ist, ein vollständiges Bild der besagten Imaginations-Vektoren zu liefern. Vielmehr werden einige zentrale Triebfedern dieses Imaginären aufgegriffen oder miteinander ins Treffen geführt. Aber am Ende ergibt gerade diese Fragmentierung eine Art Gradmesser: für die Symptomatik eines steigenden Kontrollverlusts im Hinblick auf soziale Prozesse bei gleichzeitiger Erhöhung des Sicherheitsaufwands – egal ob dies private, polizeiliche oder weltpolitische Belange betrifft.

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Die herbst-Ausstellungen sprechen nicht zuletzt ein weites Spektrum zwischen diesen Extremen an: „knowing you, knowing me“ in der Camera Austria etwa die identitätsbildenden Verfahren, die sich jenseits von totaler Ordnung oder vollendetem Chaos vorrangig über tendenziell offene Bildprozesse definieren; „Further Processing“ im Medienturm die Möglichkeiten einer generativen Kunst, deren Spontaneität gerade aus der Strenge algorithmischer Programme resultiert.

All diese Facetten bündeln sich rund um die zentrale Symptomatik und reichern diese an. Zusammen ergeben sie die Skizze eines sozialen Imaginären, das sich in unsicherer Schwebe zwischen Kontrollmaximierung und Kontrollverlust befindet; eines Vorstellungsraumes, dessen ästhetische, technologische, soziale und politische Parameter weder deckungsgleich sind noch in völliger Isolation voneinander existieren.

Gesellschaft mit beschränkter Haftung
Der Kontrollverlust, was die Steuerung sozialer Entwicklungen anbelangt, ist nur eines von vielen Phänomenen, die der Soziologe Zygmunt Bauman unter der Formel „Gesellschaft im Belagerungszustand“ zusammengefasst hat. Insbesondere sieht Bauman die gegenwärtigen westlichen Gesellschaften von zwei Kräften in die Zange genommen – Kräften, die auf den ersten Blick höchst unterschiedlich und unzusammenhängend wirken. Zum einen ist dies ein massiver Druck „von oben“ – das, was gemeinhin als Globalisierung bezeichnet wird und in einer Reihe von gesellschaftsintern nicht regulierbaren Effekten seinen Ausdruck findet.

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Zum anderen handelt es sich um eine fragmentierende Kraft „von unten“ – das, was in der zunehmenden Diversität individualisierter Lebensformen bis hin zu radikal unvereinbaren Wertmaßstäben sichtbar wird. „Lebens-Politik“ (life politics) nennt Bauman diese Sphäre, die sich immer mehr vom herkömmlichen Politikbereich abkoppelt. Zwischen Prozessen der Globalisierung und jenen der Lebens-Politik tut sich eine immer größere Kluft auf, eine Art Vakuum, in dem auch die Möglichkeiten demokratischer Politik zunehmend zu schwinden drohen.

Die gegenwärtigen Anstrengungen um gesellschaftliche Kontrolle, ebenso wie die damit einhergehenden Kontrollverluste, sind genau in dieser Schere situiert, in der die Kräfte „von oben“ mit jenen „von unten“ immer weniger zur Deckung kommen. Dem widerspricht nicht, dass selbst radikal antiwestliche Agenden, also das, was gemeinhin als partikularistische Tendenz wahrgenommen wird, mittlerweile globale Dimensionen angenommen haben. Oder dass die universalisierende, alles gleichmachende Kraft des Kapitals unterschiedlichste lokale Ausformungen findet (wovon etwa Arbeiter in einer indonesischen Turnschuhfabrik im Vergleich zu ihren westlichen Kollegen, so diese noch nicht endgültig „outgesourct“ worden sind, ein Lied singen können).

Der Zwischenraum, der sich zwischen diesem „Oben“ und dem nur partiell damit in Einklang stehenden „Unten“ auftut, dieser Raum wird von den herbst-Ausstellungen auf vielfältigste Weise vermessen. Wobei der Spannungsbogen der einzelnen darin vertretenen Werke vom flexibilisierten Arbeitsplatz bis zum Leben in der Favela-Siedlung, von ökonomisch durchregulierter bis hin zu getarnter, immer nur „teil-identifizierter“ Identität reicht.

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Oben und Unten stehen längst in keinem durchhierarchisierten, geschichteten Abhängigkeitsverhältnis mehr. Seit die Moderne in eine Phase der zunehmenden „Verflüssigung“ (Bauman) eingetreten ist – im Deutschen spricht man von der „flüchtigen Moderne“ –, hat sich auch die soziale und politische Machtausübung grundlegendzu wandeln begonnen. Sei es in Form immer sensiblerer Kontroll- und Sicherheitsregimes, sei es als immer mehr verinnerlichte bzw. vorauseilende Gehorsamkeitsdispositionen – Macht ist nicht einfach mehr das, was einmal als staatliches Gewaltmonopol oder panoptische Gesellschaftsstrukturierung über das Leben der einzelnen „gestülpt“ war. Vielmehr hat sich, wie Bauman sagt, die Macht immer mehr aus dem angestammten Bereich der Politik verabschiedet (ohne deshalb inexistent geworden zu sein). Gleichzeitig hat die Politik – als ritualisiertes, singuläres Forum der Ausverhandlung divergierender Interessen – eine enorme Pluralisierung erfahren: So wird heute von einer ganzen Reihe neuer, zuvor nicht wahrgenommener Akteure politische Anerkennung eingefordert, werden Alltagsprobleme zu politischen Anliegen hochgeschraubt, während gleichzeitig die „große Politik“ sich immer inhaltsleerer ausnimmt. Wie diese neu strukturierten Macht- und Politikformen aussehen, in welchem Zusammenhang sie stehen und wie sie die Individuen auf bislang nicht gekannte Weise affizieren, dies alles wird seit längerem in künstlerischen Arbeiten experimentell erkundet – Arbeiten, wie sie auch in „Protections“ (Gutshaus Kranz) bis hin zu „traurig sicher, im Training“ (Grazer Kunstverein) vertreten sind.

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Subjektzentrierung als List des Staates
Interessant erscheint dabei, dass die Auseinandersetzung mit neuen Macht- und Politikformen, wie sie in avancierten Ausstellungsprojekten heute geübt wird, nahezu vollständig von staatlichen Institutionen absieht. Die Testfelder dieser Neuformierung sind der private Arbeitsplatz oder der institutionelle „Zwischenraum“, die grassierende Sicherheitshysterie oder die Technologien der (positiven) Identitäts-Ausstaffierung. Kaum noch treten alte staatliche Einrichtungen wie Schulen, Militär oder der öffentliche Verwaltungsapparat in den Blick. Wie wenig die staatlichen Institutionen als Bühnen der Sichtbarmachung neuer Machtformen taugen, hat beispielsweise Michel Foucault in seinen letzten Arbeiten immer wieder betont. Foucault ging es nicht darum, staatliche Macht, geschweige denn deren Gewaltausübung zu leugnen. Dafür hatte die Zuspitzung politischer Kämpfe in den 1970er Jahren, aber auch das Auftauchen neuer sozialer Bewegungen, die oft genug vom Staat auf das Brutalste in die Schranken gewiesen wurden, genügend gegenteilige Beweise erbracht. Worauf Foucault mit seiner Infragestellung staatlicher Macht abzielte, war vielmehr ein Zurechtrücken der gängigen Kategorien, in denen die Kritik am Staat bis dahin meist formuliert worden war.