wukonig.com



steirischer herbst

» Fr 13/10 & Sa 14/10 – Wörterbuch des Krieges

» 21/09 - 15/10/2006 – steirischer herbst 2006



Festivalzentrum
der Standard - 25.09.2006
Biomasse mit Seelenschmerz


Mit zwei amüsanten, aber doch merkwürdig leichtgewichtigen Bühnenproduktionen versucht der steirische herbst, Diskurshoheit auf dem Theatersektor zu behaupten: In "Tanzen!" erlernen Minderleister das Leiden, in "Nine Years" wird die Welt bestaunt.

Ein kluger Kopf wie Peter Sloterdijk stellt in Zorn und Zeit , seinem neuen Traktat über die kulturelle Wirksamkeit von Ressentimentbildung, sinngemäß fest, dass die umständliche Entwicklung von Mechanismen des Interessenausgleichs zwar mühsam und notwendig, aber unter keinen Umständen tragödientauglich sei. Die Selbstdressur der in flexible Erwerbsleben entlassenen Individuen erfordert ein strikte postheroisches Management.

Jene Nöte, die der kleine Lohnempfänger im Kampf um sein bisschen Daseinsvorsorge aktuell durchleben muss, hat der sterirische herbst mit einem ganzen Arsenal von Theoriebegriffen wie ein treu sorgender Landschaftsgärntner eingehegt. In Fritz Katers (alias Armin Petras') klei-ner Flexibilisierungskomödie Tanzen! , die im Untertitel zur "Industrial Soap Opera" anschwillt, winkt zum Abschied noch einmal der Slapstick aus den Armutsschulen der flackernden Stummfilmepoche ins keimfreie Hier und Heute herüber: Kinder, waren das Zeiten, als der Dienst am Fließband den ungelernten Arbeitskräften noch groteske Verrenkungen abverlangte!

Katers Text, imTheater im Palais auf die lange Bank einer zentral aufgebockten Konferenztischlandschaft gespannt (Bühne: Susanne Schuboth), schmückt sich freilich bereits mit Erfahrungsstoff aus den vereisten Klimazonen postindustriellen Arbeitens. Der grotesk hirnwütige Personal-"Supervisor" einer Biotech-Firma (Peter Moltzen) mimt den schusseligen Knochenkomiker einer zum Scheitern verurteilten Selbstbezähmung.

"Bernie, 44, Buster Keaton mit Brille" muss im papierenen Keimfreihaltungsanzug die Zähne wider seine Untergebene Inga (Yvon Jansen) fletschen: Sie, die schon 35-Jährige, soll in seinem mit Kaffeebohnen und Kartonschildchen rudimentär ausstaffierten Personalbüro ihren vorsorglichen Verzicht auf Abfertigungsleistungen unterschreiben.

Arbeitsakrobaten
Zum alten Eisen gehört, wer seiner Firma länger als sechs Jahre treue Dienste geleistet hat. Zum Triangel aufgespannt wird Katers heiteres Berufserwarten durch Sandra (Nicolette Krebitz), die unter ihrer Glatthaarperücke alle Flexibilisierungszumutungen mit Werbespruchfetzen und antrainierter Gemütsfitness turnakrobatisch abfedert.

Klappt's im Betrieb nicht? Kann sie immer noch nackttanzen! Und weil Regisseur Petras, der dieser Tage das Berliner Maxim Gorki Theater übernimmt, als sein eigener Uraufführungsregisseur ein Quälvirtuose ist, der aus den schlotternden Anzügen aller potenziellen Modernitätsverlierer köstliche Manien und Macken herausbeutelt, atmet dieser sehr übersichtliche Abend das ein wenig strenge Aroma eines zwar nicht konformistischen, aber doch treuherzig-heiteren Einverständnisses: Werktätigen, die noch mit Rasierschaum herumsauen, die zum knallenden Retro-Riff der skandinavischen Garagenstilisten The Hives ihre Gliedmaßen schütteln können, kann es gar nicht so schlecht gehen, wie sie Pillen schluckend und Schmutz abduschend tun! Diese solide Produktion suggeriert eindrucksvoll: So lustig werden wir in Zukunft nicht mehr abgebaut.

Im ordinalen Dickicht von "Kontrolle" und "Kollaboration", beim Anzapfen neuer Erfahrungsquellen für geschundene Marktteilnehmer unter Abstraktionszwang, landet der Flaneur zuverlässig beim Fernweh: Das britische Theaterkomikerpaar Lone Twin hat laut Katalogauskunft eine neunjährige Weltreise unternommen. Im Theater am Ortweinplatz haben Gary Winters und Gregg Whelan eine Videoleinwand aufgespannt, über deren geduldigen Schirm die Brachen und Birken eines zusehends anonymer werdenden Globalterritoriums flackern.

Die Produktion Nine Years , in Koproduktion mit Institutionen in Nottingham und Leeds entstanden, entzaubert als spartanisches Oratorium die Idee eines geografisch weit ausgreifenden Erfahrungshungers, der hinter der nächsten Einöde das Werkzeug für kolossale Umwälzungen vorhanden vermutet.

Einer der beiden zumeist Fahrrad fahrenden Herren (Winters) verliest mehrmals feierlich, indem er eine Kladde vom Notenständer zu Hilfe nimmt, das donnernde Manifest eines Unbehagens in der Weltgesellschaft, die absehbar hinter ihren eigenen Ansprüchen auf universelle "Geltung" gefangen sitzt. Das Scheitern globaler Geselligkeit, lernen wir aus diesem mit Anekdoten gespickten, von mehreren losen Handlungsfäden eher nachlässig durchwirkten Kleinkunstabend, mündet in ein Aufflackern von Melancholie, für deren Bestimmung uns noch die zureichenden Begriffe fehlen.

Postindustrielles Abschlaffen? Eine Unterfunktion des sozialen Kompetenzerwerbs bei gleichzeitiger Proklamation eines strikte philantropischen Interesses an unseren Mitmenschen? Die genannten zwei Produktionen bieten trotz vieler herzerwärmender Details keinerlei Antworten.

Ronald Pohl