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steirischer herbst

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» 21/09 - 15/10/2006 – steirischer herbst 2006



Festivalzentrum
Neue Zürcher Zeitung - 26.09.2006
Das Leben zwischen Graz und Grönland
Der Steirische Herbst hat eine neue Intendantin und denkt über Kontrolle und Kollaboration nach

Das Grazer Traditionsfestival Steirischer Herbst scheint seine Krise erfolgreich überwunden zu haben. Das Eröffnungswochenende zeigt in vielen Kunstformen den sozialen Raum, in dem wir leben.

Ein dumpfes Geräusch macht die kiloschwere Mortadella, wenn sie, aus zehn Metern Höhe fallend, auf einem Erdhügel aufprallt. Auch das weiss man jetzt. Leonardo da Vincis gezeichnete Phantasie des "Geräteregens" hat der österreichische Komponist Georg Nussbaumer zur Eröffnung des Steirischen Herbstes in eine triumphale akustische und visuelle Wirklichkeit umgesetzt. Kartoffeln, Fleischwölfe oder Zahnprothesen prasseln in der Helmuth-List-Halle von der Decke. Es flattern die Buchseiten, es stäubt der Regen und es rieselt der Sand. Und wenn nicht metallische Klänge einen "Glöckchenschauer" erzeugen, dann sind es acht Windmaschinen, die Frisuren zunichte und das Spektakel zum sakralen Endzeiterlebnis machen.

Ironie und Nachdenklichkeit
Bewusst zwischen Banalität und hochgespannter Symbolik bewegt sich Nussbaumers "Schwerefeld mit Luftabdrücken", und so passt es bestens zum Steirischen Herbst. Das Grazer Festival ist dabei, unter der neuen Intendanz von Veronica Kaup-Hasler das Abenteuer neu zu entdecken. Und das heisst für diesmal: Die Nachdenklichkeit ist kein trocken diskursiver Selbstzweck, sondern durchaus fähig zu Ironie.

Statt eines Mottos gibt es Stichworte, die jenen Bereich markieren, in dem die Kunst ihrer sozialen Funktion gewahr wird. Unter den Begriffen "Kontrolle", "Kollaboration" und "Teilhabe" sollen gesellschaftliche Wirklichkeiten abgebildet werden. Die menschlichen Strategien im Kräftefeld zwischen wachsendem Individualismus und steigender öffentlicher Kontrolle sind damit allemal berührt. "Protections" nennt sich eine Ausstellung im Kunsthaus Graz, das sich für den Steirischen Herbst anagrammatisch ins "Gutshaus Kranz" verwandelt hat. Die Hürden beim Rückzug ins Private werden hier thematisiert. Drei kleine Häuschen haben die Dänen Michael Elmgreen und Ingar Dragset in die prätentiöse Blasenarchitektur des Grazer Kunsthauses bauen lassen. In den bis zur Dachschindel spiessigen Refugien aber herrscht auch nur Ungemütlichkeit. Die Jalousien von Tim Etchells' "Nothing Good House" sind mit Augen bemalt, am roten Notruftelefon ist nur Vogelgezwitscher zu hören. Man ahnt, was Adorno mit seiner Feststellung gemeint haben könnte, dass im Gesang der Vögel auch das Schreckliche lauert.

Schrecklich ist Etchells' "Nothing Good House", doch gleich nebenan kann man sich gegen die Angst schützen lassen. Dejan Spasovic fertigt an seinem Arbeitstisch Amulette gegen Vogelgrippe, Haarausfall oder Untreue der Frauen. Dem Menschen, der sich nach einer festen Beziehung zur Aussenwelt sehnt, ist die Schau "Protections" gewidmet, und sie zeigt dabei ein höchst instabiles System. Fest steht oft nur die Furcht, wie es die Fotografien von Katrina Daschner zeigen. Der Fassbinder-Titel "Angst essen Seele auf" ist auf einen Arm tätowiert oder Giorgio Agambens Formel vom "Nackten Leben". Die Ausstellung "Protections" ist ihrem Untertitel gemäss "keine Ausstellung". Bis zum Ende will sie sich stetig verändern und sich damit dem allzu Eindeutigen durch wechselnde architektonische und performative Interventionen verweigern. Der verballhornte Name "Gutshaus Kranz" gibt dabei immerhin einen Kalauer ab.


Was ist der Raum, in dem wir leben? Markus Schinwalds "Möbelmaschine" ist dem Menschen eine Prothese und eine Bedrohung zugleich. Eingespannt in ein System, kann er von diesem profitieren oder gedemütigt werden. In der Performance von Schinwalds "The Stage Matrix" windet sich ein Schauspieler durch eine schleiflackweisse Schrankwand, verräumt sich und klappt sich wieder hervor. Als "Sleeper" im Bärenkostüm hat der britische Künstler Mark Wallinger eine Nacht im Neuen Nationalmuseum Berlin verbracht. Die im Kunsthaus Graz zu sehende Videoinstallation zeigt ein Wechselspiel aus drolliger Schutzlosigkeit und Imponiergehabe. Fliessend, wie alles in "Protections", sind da die Grenzen.

Schutzlosigkeit und Imponiergehabe
Viel hat es offenbar nicht gebraucht, um das "Herbst"-Thema der sich verändernden Relationen zwischen Innen- und Aussenwelt auch in der übrigen Grazer Stadttopographie produktiv zu machen. Die Neue Galerie zeigt die von Peter Weibel mitkuratierte Ausstellung "Slum", in der HA Schults aus Müll bestehende "Trash People" die Türwächter des barocken Innenhofs machen. Das Forum Stadtpark lotet den Raum in seinen politischen, identitätsstiftenden und architektonischen Funktionen aus und ist am Steirischen Herbst mit einem erfrischenden Programm beteiligt: "No Space is Innocent." Wem sagt man das? Armin Petras, der Regisseur und neue Chef des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, weiss es längst, und er hat sich als Fritz Kater selbst ein Stück geschrieben.

"Tanzen!" heisst die "Industrial Soap Opera", die beim Steirischen Herbst uraufgeführt wurde und die forcierte Kälte des neoliberalistischen Personalmanagements auf die Reibungswärme der Menschen treffen lässt. "Die Landschaft der Industrie ist das aufgeschlagene Buch der Psychologie", wie Karl Marx im Vorspann zitiert wird. Zwischen Slapstick und bitterem Ernst lässt Petras sein Grüppchen von Angestellten agieren. Die Biotechnologiefirma, in der sie arbeiten, ist ein Ausbund an Kontrolle. Mit ihren Kameras und Supervisoren ist sie Herr über Menschen, die sich selbst nicht mehr im Griff haben. Der von Peter Molzen mehr akrobatisch als verklemmt gespielte Bernie schwärmt für Buster Keaton und hat der Enddreissigerin Inga (Yvon Jansen) den nachlassenden Nutzen ihrer Arbeitskraft zu verdeutlichen.

Aber auch die Jungen wird es nicht lange im rationalisierungs- und kontrollwütigen Unternehmen halten. "26, fit" genügt als Beschreibung für eine von Nicolette Krebitz äusserst lebensnah gespielte Sandra, die dem System des Überwachens und Strafens immerhin noch mit dem erotischen Erwerbszweig "Exotic Dance" entkommen kann. Zum Patchworküberleben gehört eben auch die funktional gelockerte Moral. Armin Petras' "Tanzen!" ist ein kleines, aber furioses Stück. Eine Art Ödön von Horvath moderner Beschäftigungsverhältnisse, in denen die Tragik mit auswegloser Komik übergossen ist.

Morsezeichen
Wäre Graz nicht tagelang von einem tröstlich blauen Herbsthimmel überwölbt, man könnte melancholisch werden. So melancholisch, wie es die norwegische Truppe Verdensteatret längst schon ist. Am Horizont einer Videoprojektion des Stücks "Concert for Greenland" fahren Dampfer übers Eismeer. Wie gemorst klingen die technisch verfremdeten Sätze von Schauspielern, die aber bald verschwinden in einer menschenleeren Welt aus Klang, anthropomorphen Drahtgebilden und subtiler Bewegung. An Jean Tinguely erinnert eine poetische Puppenmaschine, auf der sich alles dreht und bewegt, wo Kriege geführt werden und Versöhnung zu feiern ist. Pathetisch und eindrucksvoll entfaltet Verdensteatret sein Tableau, das in Grönland spielen mag, aber die zentrale Grazer Frage stellt.

Wo leben wir denn? "Ja, wo leben sie denn?" wird in Armin Petras' "Tanzen!" gefragt. Die Antwort ist trotzig, unsicher und wahr: "Zu Hause."

Paul Jandl