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steirischer herbst

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» 21/09 - 15/10/2006 – steirischer herbst 2006



Festivalzentrum
Falter - 18.10.2006
Tanz den Voodoo!
Letzter Vorhang im herbst-Theater: Der belgische Starchoreograf Alain Platel lässt bei vsprs Nervenkostüme tanzen.

Klassiker-Bearbeitungen haben es Alain Platel angetan: "lets op Bach" verhalfen dem ausgebildeten Heilpädagogen 1998 zum internationalen Durchbruch, und 2003 landete er mit dem Mozart-Projekt "Wolf" für die RuhrTriennale einen durchschlagenden Erfolg. Bei seiner im Rahmen des steirischen herbstes im Schauspielhaus gezeigten Arbeit vsprs gibt es Platel nun im Vergleich zu früheren Arbeiten ernsthafter. Akrobatik und Slapstick treten in den Hintergrund, die elf handverlesenen Tänzer von Les Ballets C. de la B. schlagen sich in extremen Schräglagen durch die Ausnahmesituationen des Da-und Andersseins, begleitet von maßgeschneiderter Live- Musik.

Platel und der musikalische Leiter Fabrizio Cassol ließen sich von Monteverdis Marienvesper zu einer überaus eigenwilligen Deutung inspirieren, die den Bogen - einer Jugenderinnerung Platels an eine Monteverdi-Aufführung geschuldet, während der sich die Instrumente immer wieder verstimmten - von Barockmusik weiter zu Jazz und Gipsy Musik spannt. Scheinbar mühelos verschmelzen die Musiker - die Jazzer AKA Moon, die stimmgewaltige Sopranistin Claron McFadden, der Originalklang-Experte Wim Becu und zwei Romamusiker - auf der Bühne die Elemente unterschiedlicher Traditionen zu einem am Ende beeindruckenden Klangerlebnis. Auch die Auswahl der Tänzer spiegelt Platels Wunsch nach kultureller Vielfalt wider, die Synthese von Gegensätzen gerät hier noch eindrucksvoller. Die Choreografie wurde in monatelangen Proben gemeinsam mit den Tänzern - mit sehr unterschiedlichen Stilen, Bewegungsmustern und Dresscodes - entwickelt.

Nach und nach stoßen die Tänzer - teils vom Parkett - auf die Bühne, beherrscht von einem überhängendem Haufen aus Weißwäsche, der die Protagonisten anzieht, ausspuckt, abwirft und verschluckt, ein verheißungsvoller Haufen Wohlstandsunrat, zu gleichen Teilen Golgotha wie Wolkenthron. Wie in einem Varieté geben die Mitglieder des Ensembles anfangs in aufeinander folgenden Soli Einblick in ihr verkorkstes Innenleben. Jeder tickt anders, jeder hat seinen eigenen Tick. Ross McCormack gibt den neurotischen Business-Egomanen und entblößt sich dabei auf mehr als eine Weise. Iona Kewney verpuppt sich - in ihrer extremen Akrobatik ähnlich der Schlangenfrau einer Freak-Show - wie ein Insekt, schlüpft in andere Tiergestalten oder liefert sich mit ihrem Partner einem unmenschlichen Pas de deux der Einsamkeit aus.

Richtig gut wird das Ganze aber, sobald Platel sein Ensemble aus der von Monteverdis Werk vorgegebenen sakralen Symbolik und den anfangs darübergelegten Bildern einer sozialen Ausgrenzungskritik entlässt und die Tänzer - reduziert auf ihr Nervenkostüm - nacktes, hysterisches, tastendes und zitterndes Leben tanzen. Schicht um Schicht lässt Platel durch kluge
Brechungen die Deutungs-und Funktionshüllen fallen, bis kurzzeitig sogar die Choreografie flöten geht und der Regisseur einen seiner Tänzer über die Bühne auf die Suche nach seinen Tanzschritten schickt. Zu Monteverdis grandiosem Magnificat führt Platel seinen Voodoo-Club der existenziell Entgrenzten schließlich durch ein kollektives Masturbationsritual in einen finalen Totentanz. "The situation is under control", plärrt Ross McCormack mit einer Stimme wie durch den Vocoder gejagt. Unheimlich, dass man dazu auch noch kurz lachen muss.

Carmen Weilharter