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steirischer herbst

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Festivalzentrum
die Presse - 23.09.2006
Schnell noch ein Notruf
In Graz wird heuer konstruiert, kontrolliert und chaotisiert.

Was darf man sich eigentlich er warten von einem tot geglaubten Provinz-Festival mit Anspruch sowohl auf Avantgarde als auch auf Tradition? Im besten Falle, dass alle Erwartungen enttäuscht werden. Indem etwa trotz des Leitmotivs "Kontrolle" eine unkontrollierbare Chaos-Homepage partout "Keine Ausstellung" im "Gutshaus Kranz" ankündigt. Was das sein soll? Eine Ausstellung natürlich. Im anagrammisch verwursteten Kunsthaus Graz. Schon sind wir belustigt, sympathisieren, sind Kollaborateure. "Kollaboration" ist zweiter Leitbegriff dieses "steirischen herbstes". Also gehen wir hin, zapfen die offenen Quellen an, die Kunst. Schlagwort Nr. 3: "Open Sources". Perfekt.
<!-- OAS_AD('Middle1'); //--> Die zwei Nachbar-Institutionen Camera Austria und Kunsthaus Graz haben sich mit voller intellektueller Wucht auf diese Themen eingelassen. Und so loten jetzt zwei Institutionen in einem Haus die Extreme aus, zwischen denen es einen im turbokapitalistischen Medienzeitalter so hin und her reißt - zu viel Kontrolle und das ebenso furchterregende Gegenteil davon, das Chaos.
Hinter dem verdrehten ABBA-Titel Knowing You, Knowing Me haben Maren Lübbke-Tidow und Reinhard Braun in der "Camera Austria" fotografische Werke versammelt, die sich in etwa damit beschäftigen, wie weit wir heute unser privates Leben schon den medial vermittelten Verhaltensmustern unterordnen, ja uns dadurch überhaupt erst zu definieren beginnen. Der Este Mark Raidpere zeigt in Form eines Homevideos zynisch, wie ein Sohn eine Aussprache mit seiner Mutter haargenau so inszeniert, wie er es von Talkshows kennt. Marco Poloni schießt Fotos wie aus Überwachungskameras, Andrea Geyer macht durch ihre inquisitorischen Fragen-Listen auf die Minimierung der Privatsphäre zur Maximierung der öffentlichen Sicherheit aufmerksam. Und die Grazer Gruppe G.R.A.M. verleitet uns mit simulierten Paparazzi-Fotos dazu, eine passende Gossip-Story zu konstruieren.
Ums Dekonstruieren von Erwartungen, das Auflösen von Kontrolle und die daraus folgende Sehnsucht nach genau dieser geht es dagegen nebenan, im "Gutshaus Kranz". Kunsthaus-Kurator Adam Budak und Perfomance-Spezialistin Christine Peters haben dem charakteristischen Blasen-Bau zu seinem dritten Geburtstag beinhart den Namen verdreht und ihn wieder zur Baustelle gemacht. "Under Construction and ready for Action" könnte am Eingang dieser expliziten Nicht-Ausstellung stehen, die als soziale Skulptur in Progress verstanden werden will. Bis zur Eröffnung am Freitag wussten selbst die Kuratoren nicht recht, was die eingeladenen Künstler beisteuern würden, um einen "Ort der Unsicherheit" zu erzeugen. Nur die Kunst steht hier "under Protection", so der Titel. Die Besucher dagegen sind herrlich hilflos ausgesetzt dem irritierenden, sich permanent verändernden Angebot aus Performances, Videos, Installationen und dem temporär hierher übersiedelten Studio von Radio Helsinki (92,6 FM).
Elmgreen & Dragset haben in den Bauch des amorphen Hightech-Museums drei echte Fertigteil-Einfamilienhäuser stellen lassen, die von verschiedenen "Gastgeber"-Künstlern unterschiedlich genutzt werden. Elisabeth Penker etwa widmete ihr Häuschen zum labyrinthischen "First Nation Pavillon" um, in dem sie recht kompliziert, mit Bezügen auf Dadaismus und Konzeptkunst, versucht, Europas koloniale Vergangenheit mit einem utopischen Ausblick auf kulturelle Formenvielfalt in Verbindung zu bringen.
Ein anderes Haus verzauberte Tim Etchell, Chef der britischen Slapstick-Gruppe "Forced Entertainment" zu einem "Nothing good house". Ein Haus, das so gar kein schönes Heim sein will. Zerstörungspläne können direkt ins Zentrum gefaxt werden, und wer versucht, schnell einen Notruf zu tätigen, hört aus dem roten Hörer nur ganz fies die Vögel zwitschern. Ein Highlight der Nicht-Ausstellung dürfte aber Etchells Chor-Projekt werden: Mit der hausinternen Wachmannschaft hat er die DDR-Hymne, Eleanor Rigby (Beatles) und Halber Mensch (Einstürzende Neubauten) einstudiert. Wer dran glaubt, kann sich beim mazedonischen Künstler Dejan Spasovik ein Amulett schmieden lassen, gegen Schwangerschaft, schlechtes Wetter oder auch Wiedergänger. Ein solcher wird täglich das Gutshaus Kranz heimsuchen, von der Straße aus angestrengt hineinstarren, ob hier auch wirklich alles außer Kontrolle geraten ist. Ein Spion nicht etwa im Auftrag der "herbst"-Intendantin Veronika Kaup-Hasler, sondern vom slowakischen Konzeptkünstler Roman Ondak.
Almuth Spiegler