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steirischer herbst

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» 21/09 - 15/10/2006 – steirischer herbst 2006



Festivalzentrum
Kleine Zeitung - 15.10.2006
Maria verzuckt im Müllmeer
Von Berlin bis Bochum, von London bis Turin überraschte der belgische Tanzcreateur Alain Platel heuer mit seiner ernstesten Arbeit: "VSPRS" wurde nun auch im "steirischen herbst" in Graz bejubelt.

Von Berlin bis Bochum, von London bis Turin überraschte der belgische Tanzcreateur Alain Platel heuer mit seiner ernstesten Arbeit: "VSPRS" wurde nun auch im "steirischen herbst" in Graz bejubelt.Wer die außergewöhnliche Tänzerversammlung von "Les Ballets C. de la B." aus Brüssel in "Wolf" (2003) gesehen hat, mag sich in Alain Platels Hundert-Minuten-Improvisation "VSPRS" über Claudio Monteverdis "Marienvesper" eine kurzweilige Mixtur von Akrobatik, Slapstick, Kindergeburtstag und Sozialreportage erwartet haben.

Das neue Produkt, das zweimal im ausverkauften Grazer Schauspielhaus zu sehen war, trifft unvorbereitet, geht unter die Haut und lässt Tanztheaterkrampf alt und platt aussehen.


Weiße Hadern eines Müllberges türmt das Bühnenbild von Peter De Blieck wie eine Surferwoge vor Malibu hoch auf. Man weiß nicht, ist es eine Kletterwand, ein Eisberg im Meer, eine Ausgrenzungsmauer.

Tourette-Kranke
In dieses Ambiente eingesperrt erscheinen elf Tänzerinnen und Tänzer, aber auch eine attraktive Sängerin und eine Crossover-Band mit Zinkenbläserinnen, Barockposaunisten, Bassgitarristen, einem blinden Zigeunergeiger und dem Monteverdi-Verjazzer Fabrizio Cassol am Saxophon.

Sind sie alle mehr oder weniger Opfer des Tourette-Syndroms in den Ausformungen nervösester Tics, schwerster konvulsivischer Zuckungen, befremdlicher Echolalie? Soll man sich empören, dass da ein gesunder Künstler Krankheitsbilder ausstellt und damit seinen Lebensunterhalt verdient?

"Die Besteigung des Monteverdi" ("Tagesspiegel") greift höher: Was Rosalba Torres Guerrero mit rauer Stimme zu sagen versucht, was Ross McCormack an Wortfetzen herausspuckt, sind Hilferufe einer globalisierten Menschheit am Ende von allem.
Können da Marienmystik, Zigeunermulazsag und Barockwohllaut noch helfen?
Die Fragen, die Platel stellt, sind existenziell und können nicht mit der zynischen Antwort des coolen Kulturbetriebsprofis, Platel kontaminiere die Hochkultur mit sozial Ausgegrenzten, abgetan
werden.

Zwei Frauen auf der Bühne leisten Erkenntnishilfe: Die intensive Iona Kewney kommt vom Straßentheater. Ihre Verrenkungen und Kletterübungen als Schlangenfrau hält man kaum für möglich. Die amerikanische Barock-Primadonna Claron McFadden, berühmt als schwarze "Lulu" Glyndebournes, als Händel- und Mozart-Interpretin, singt und scatet ihr Magnificat himmelhoch in ätherische Ekstasen.

Hans Jörg Spies