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steirischer herbst

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Festivalzentrum
Süddeutsche Zeitung - 05.10.2006
Mythennebel aus dem inneren Berg
Die Truppe Raffaello Sanzio beim Steirischen Herbst in Graz

Auf einmal war dieser Nebel da, nach einem strahlenden Sonnentag ganz unvermutet. Die Grotte im Berg unter dem Grazer Uhrturm war nur noch ein einziges Nebelloch. Aber "the fog", dieser Nebel des steirischen Herbst-Festivals, kam erst richtig auf, als er eigentlich schon verflogen war. Aus dem Trockeneis entwickelte sich ein Mythennebel. Denn der italienische Theater-Avantgardist Romeo Castellucci, mit seiner Truppe Societas Raffaello Sanzio weltberühmt, zelebrierte im Innern des Berges eine Herbeirufung: "Hey, girl!"

Die Girls, die er meinte, heißen Maria Stuart, Anne Boleyn, Marie-Antoinette oder Katharina II. von Russland. Sie alle waren irgendwann einen Kopf kürzer. Da rollte der Kopf im Berginneren. Unter alarmierenden Geräuschen, die klangen, als brennten der Welt sämtliche Kabel durch, mit Schreckensmusik und Stroboskopblitzen entführten zwei Darstellerinnen ihr Publikum, als hätten sie gerade Tempeldienst, ins Dunkel unserer Vergangenheit, den Körper silbrig bepinselt oder einen zweiten Kopf in Reserve.

Der Abend beginnt mit einem grandiosen Bild. Auf einem Tisch wie einer überdimensionalen Streckbank entpuppt sich aus einer gallertartigen Masse unendlich langsam eine Frau, die sich am Ende als riesengroßer schwarzer Schmetterling, ein Verwandter der Totenvögel, wieder verabschiedet. Ein glühendes Schwert brennt ein schwarzes Kreuz in einen weißen Umhang, und auf der Tonspur dieses Bildes knistert es so scheußlich, dass man glauben könnte, das Kreuz habe sich zugleich in die Haut eines Menschen eingebrannt.

Dieser Abend lebt von unberührbaren Bildern. Das Schwert liegt drohend im leeren Raum auf dem Boden. Als es aufgehoben und als Schwert benutzt wurde, begann der Abend im Mythenkitsch zu versinken. Aber da war dann noch dieser einzigartige Spielort, dieses Theater im Erdinnern, wo man in der Romantik das Buch des Lebens zu finden glaubte.

Ein Hauch Off Off Broadway
Als im "Theater im Palais" Richard Maxwell vom New Yorker Off Off Broadway gastierte, war der schöne Spuk schnell verschwunden. "The End Of Reality" beschreibt am Beispiel einer Security-Firma den Kontrollwahn und die Angstpsychosen der amerikanischen Gesellschaft. Da taucht irgend so eine Mütze auf, nimmt jemanden mit und schon sieht man Land unter. Während dieses endlosen Abends erinnerte man sich sehnsüchtig an Aufführungen in den Münchner Kellertheatern der 1970er Jahre. Aber das war eben nur Off Off Leopoldstraße und nicht Broadway. Im proppenvollen Kulturzentrum gab es anschließend ein ohrenbetäubendes Konzert, die Camper-Karawane, die im Auftrag des Festivals die Steiermark bereist, war zu einem
Zwischenstopp nach Graz zurückgekommen und erzählte ihre Geschichten aus der Provinz. Die neue Festival-Chefin Veronica Kaup-Hasler diskutierte im Schanigarten ihre guten Erfahrungen mit Maxwell in New York. Und so geht der "Steirische Herbst" wie nach einer gelungenen Anti-Aging-Kur in die letzte Runde.

Helmut Schödel