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Fritz Kater: "Tanzen!"
Buster Keaton mit Brille

von Andrea Koschwitz
in Theaterheute Jahrbuch 2006

Die Berliner Tageszeitung «Germania» veröffentlicht am 9. August 1930 einen Aufsatz der jungen Dramatikerin Marieluise Fleißer. Die durch Skandale um die Uraufführungen ihrer Stücke «Fegerfeuer in Ingolstadt»( 1926) und «Pioniere in Ingolstadt» (1928) bekannt gewordene Dra-matikerin porträtiert zwei Jahre nach der Einführung des Tonfilms auf ungemein anrührende Weise den Stummfilmstar Buster Keaton: «Buster befindet sich unter Feinden und soll es sich nicht anmerken lassen. Erstens ist der Mensch ein Weichtier, und zweitens ist nötig, dass er etwas tut, wenn er nicht krepieren will. Und Buster tut! Ergewöhnt sich dran, dass sie es auf ihn abgesehen haben, das ist seine Chance. Buster hat Training. Er denkt an sich nur mehr wie einen geölten Blitz. Buster ist der Mann, der nicht mehr wie sterben kann. Er stirbt jeden Moment ein bisschen, unauffällig.» Ein Dreivierteljahrhundert später schreibt der Berliner Autor Fritz Kater «Tanzen! Eine Industrial soap opera». Ihr männlicher Protagonist heißt Bernie, Kater beschreibt ihn lakonisch als einen «buster keaton mit brille». Bernie ist nach eigenen Angaben Supervisor in einer «bio-tech-firma» und die rechte Hand vom Chef. Und: Bernie lacht gern, obwohl es für ihn eigentlich wenig Grund zum Lachen gibt. Denn Bernie
hat den Auftrag, Inga, 35 Jahre alt «und die sieht man»,  zu einer Unterschrift zu bewegen. Nach sechs Jahren Firmenzugehörigkeit soll sie unterschreiben, im Falle ihres Ausscheidens keine «außerordentlichen Ansprüche» an die Firma zu stellen. Doch Inga wehrt sich. Da muss zur### psychologischen Kriegsführung «Der General», Bernies Lieblingsfilm mit Buster Keaton ran: «keaton steht auf einem zug dessen bremsen  gebrochen sind und er fährt immer weiter in den abgrund den ganzen film lang immer die katastrophe vor augen und er zuckt nicht einmal mit den wimpern... immer nur bergab das ganze leben.»

Mit «Tanzen!» (UA am 22. September 2006 beim «steirischen herbst» und am 8. Oktober 2006 im Maxim Gorki Theater Berlin) kommt Fritz Kater, Autor des Jahrgangs 1966 mit Ostberliner Biographie, wohl unwiderruflich in unserer Schönen Neuen Welt des 21. Jahrhunderts an. Bereits «Abalon – One nite in Bangkok» (UA 2006) hatte den Beginn einer neuen Phase im Kater-Werk angekündigt. Er lässt seine erfolgreichen Dramen ostdeutscher Erinnerungsarbeit «Fight City.Vineta» (2001), «zeit zu lieben zeit zu sterben» (2002), «WE ARE CAMERA/jasonmaterial» (2003), «Sterne über Mansfeld» (2004) sowie « Drei von fünf Millionen» (2005) hinter sich. Die bisher in ostdeutscher Vergangenheit wurzelnden Provinzen seiner Dramen öffnen sich mächtig zur Gegenwart. Die neuen Figuren wollen mit aller Macht die bestimmte und sie bestimmende Geschichte(n) loswerden. Es sind Figuren auf der Flucht vor der eigenen Biographie. Halt finden sie nicht mehr bei einer vielleicht elenden Herkunft, die aber immerhin etwas eigenes, etwas Selbst-besessenes gewesen war – Halt finden sie nur noch an den schemenhaften Helden der neuen Medien. Comicfiguren und Schauspieler besetzen die Leerstellen des realen Lebens und der eigenen Fantasielosigkeit. Eine große Kälte macht sich breit und: Gleichgültigkeit.

Wie im Leben der ehemaligen Sportstudentin Sandra, 26 Jahrejung und fit. Der Quereinsteigerin winken die besten Aufstiegschancen. Denn laut Bernie arbeiten in der Firma «nur frauen und männer die voll leistungsfähig sind und in der blüte ihrer jahrestehen. etwas anderes könnte sich die
### firma bei der konkurrenzsituation auf dem weltmarkt gar nicht leisten.» Bernie persönlich hat Sandra unter den zahlreichen Bewerbern ausgewählt, aber Bernie hat Sandra unterschätzt. Ohne seine Hilfe findet sie den Geheimcode zur Chefetage und lässt den nun angeblichen Supervisor auf einmal alt aussehen. Auf seine Frage «mann sandra, wen glauben sie haben sie vor sich»  antwortet Sandra eiskalt: «Einen nicht mehr ganz jungen nicht zu gut ausgebildeten angestellten der zu recht fürchtet entlassen zu werden.» Auch für Ingas Probleme hat Sandra nur ein müdes Lächeln. Sie lebt ohne Illusionen in den Tag und  beherrscht den einsamen Existenzkampf des alltäglichen Überlebens mit  ständig wechselnden Jobs perfekt. Es scheint, dass sie alles im Griff hat, und dass sie es ist, die die Verhältnisse zum «Tanzen!» bringt.

«Die Landschaft der Industrie ist das aufgeschlagene Buch der menschlichen Psychologie.» Fritz Kater hat dieses Motto von Karl Marx seinem Theaterstück  «Tanzen!» vorangestellt. Die Idee zum Stück kam ihm in Brasilien bei einem Galeriebesuch. Eine Installation hatte das Thema Überwachung thematisiert. Und hier beginnt der eigentliche «Krimi» im neuen Kater Stück: Wer wen überwacht, wann die Kameras an- oder ausgeschaltet sind und warum die Leitung seit einer Woche defekt ist, weiß keiner. Der Neue, «auch so ein Quereinsteiger», meldet sich bei Bernie nicht zurück. Er reagiert gar nicht! Da kommt einem Buster Bernie mit seinen «21 Knochenbrüchen bei seinen ganzen Stunts ohne Doubles» plötzlich sehr menschlich vor. Auch Inga mit ihrem Mut zur Verweigerung lässt aufatmen, und man erkennt die Handschrift von Trotz und Schmerz, Lebensmut und Verzweiflung des Dramatikers Fritz Kater, einem Enkel Marieluise Fleißers und/oder Buster Keatons: «Derselbe Mensch mit der scheinbar langen Leitung kann verdammt auf dem Sprung sein, wenn es gilt. Er hat sich daran gewöhnt, dass sie es auf ihn abgesehen haben, das war seine Chance. Der Zuschauer muss ihm sehr wach und bereit gegenübersitzen, wenn er ihn immer erraten will. Denn Buster lässt sich nicht ### mehr zusehen, wenn er nachdenkt. Buster zeigt sogleich das Ergebnis, den überraschenden Einfall. Dann ist er ganz fliegende Sehne, in seine leeren Augen mit dem verdrängten Blick tritt die dunkle Schärfe von Pfeilspitzen, sein mageres Gesicht wird zufassend wie die Kinnlade eines jungen Hais. Ein hellspürendes Geschöpf der modernen Wildnis, das überwache Tier der tönenden Asphaltwüste schnellt über die Leinwand.»

Andrea Koschwitz ist Chefdramaturgin am Maxim Gorki Theaters Berlin.
Die Zitate sind den Materialien zum Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer entnommen.
Herausgegeben von Günther Rühle, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1973.